Zusammen mit ihrem französischen Partner SOS Racisme und einer Gruppe junger Menschen aus Algerien verbrachte die Solijugend eine vom Deutsch-Französischen Jugendwerk (DFJW) geförderte Begegnung in Frankreich. Vom 1. bis zum 9. Mai begaben wir uns in Paris, Lyon und Marseille auf die Spuren des Holocaust und der französischen Kolonialgeschichte.
Wie sprechen junge Menschen über ihre Geschichte? Wie ist globale Geschichte miteinander verknüpft und welche Aufgaben ergeben sich daraus für ein solidarisches Miteinander? Das waren die zentralen Fragen unserer gemeinsamen Begegnungsreise nach Frankreich.
Zu Beginn führten renommierte französische Historiker*innen in die Geschichte der französischen Kolonialisierung Algeriens, den algerischen Unabhängigkeitskrieg und dessen bis heute anhaltende Folgen für Algerien und Frankreich ein. Im Anschluss daran erkundeten wir Paris per Stadtführung – mit einem Schwerpunkt auf Orte, die einen engen Bezug zur französischen Kolonialgeschichte haben. Hier wurde sehr deutlich, wie stark die französische Gesellschaft und das Pariser Stadtbild durch die Einflüsse von Algerier*innen geprägt sind, obwohl diese seit vielen Jahrzehnten weitestgehend marginalisiert werden. Besonders eindrücklich war dies bei der Besichtigung der Pont Saint-Michel in der Nähe der weltbekannten Kathedrale Notre-Dame. Dort erinnert lediglich ein kleines, leicht zu übersehendes Schild an das Massaker von 1961, bei dem mindestens 200 Algerier*innen, die friedlich für die Unabhängigkeit ihres Landes von Frankreich demonstriert hatten, von der Pariser Polizei erschlagen oder erschossen wurden. In den zahlreichen Gesprächen zwischen den Teilnehmenden wurde deutlich, dass in Frankreich bis heute kaum über die eigene Kolonialvergangenheit, begangene Verbrechen und Unterdrückung gesprochen wird.
Wie sprechen junge Menschen über Geschichte und ihre Verantwortung, aus Geschichte zu lernen? Das war eines der zentralen Themen beim Besuch der Holocaustgedenkstätte am nächsten Tag. Während französische Teilnehmende davon berichteten, dass sich die französische Erinnerungskultur weitestgehend auf einen vermeintlich kollektiven Widerstand gegen die Besetzung durch die Nationalsozialisten zurückzieht, wurde aus deutscher Perspektive eine gewisse, oftmals unreflektierte Selbstzufriedenheit mit Blick auf die eigene Erinnerungsarbeit festgestellt. Wie kann internationale Jugendarbeit einen Beitrag dazu leisten, dass junge Menschen die Möglichkeit bekommen, sich über unterschiedliche Perspektiven auszutauschen, aus der Vergangenheit zu lernen und gemeinsam an der Zukunft zu arbeiten? Mit der Forderung nach einem algerisch-französischen Jugendwerk nach dem Vorbild des deutsch-französischen Jugendwerks lud SOS Racisme am folgenden Tag zu einer Jugendversammlung und Fachtagung in der französischen Nationalversammlung ein, an der neben Vertreter*innen verschiedener Jugendorganisationen auch Abgeordnete des französischen Parlaments teilnahmen. Die Schaffung von tragfähigen Förderbedingungen spielt insbesondere im Kontext des europäisch-afrikanischen Jugendaustauschs eine enorme Rolle. Internationale Jugendarbeit kann viel leisten und ist dazu auch in der Lage. Dafür braucht es aber neben finanzieller Förderung auch die politische Unterstützung der selbstorganisierten Jugendstrukturen auf beiden Kontinenten.
Nach dem Besuch verschiedener Organisationen in Paris, wie etwa der Fondation des Femmes, ging es dann für einen Tag nach Lyon. Dort bekamen wir einen Eindruck von der Arbeit antirassistischer Organisationen, die sich den Angriffen von rechtsextremen Gruppen in der Stadt entgegenstellen und für eine gleichberechtigte, solidarische Stadtgesellschaft einstehen.
Am Folgetag reisten wir nach Marseille, wo wir uns mit zwei Bezirksbürgermeistern über die vor Ort stattfindende Aufarbeitung der französischen Kolonialzeit austauschen durften. Dazu gehört zum Beispiel die kürzliche Umbenennung einer öffentlichen Schule, die ursprünglich den Namen des Generals trug, der maßgeblich für die Kolonialisierung Algeriens verantwortlich war. Heute ist sie nach Ahmet Litim benannt, einem algerischen Soldaten, der 1944 die Befreiung Marseilles von den Nazis erkämpfte. Nach nur einem Tag in Marseille ging es dann für den 9. Mai wieder zurück nach Paris. Als Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus in weiten Teilen Europas gefeiert, bedeutete der 9. Mai für die algerischen Teilnehmenden die Erinnerung an die Massaker von unter anderem Sètif, Guelma und Kherrata durch französischen Kolonialtruppen 1945. An diesem Tag nahmen wir an drei Gedenkveranstaltungen teil. Zuerst an einem Gedenken an die Opfer eben jener Massaker. Daraufhin gingen wir zu einem nach den Geschwistern Scholl benannten Park, wo wir den Widerstandskämpferinnen der Weißen Rose gedachten, um abschließend an einer Gedenkfeier zu Ehren aller Opfer der nationalsozialistischen Schreckensgewalt und der im Zweiten Weltkrieg gefallenen Soldaten teilzunehmen.
Die gemeinsame Jugendbegegnung in Frankreich war eine lehrreiche, intensive Zeit. Durch die trinationale Gruppe war es möglich, auf verschiedene Momente der gemeinsamen Geschichte mit unterschiedlichen Perspektiven zu schauen und diese zu reflektieren. Bei allen ist vor allem das Bedürfnis sehr gewachsen, zukünftig noch stärker selbst für eine solidarische, gerechte Welt einzutreten. Die erfahrene Gastfreundschaft, die neu entstandenen Freundschaften sowie die vielen schönen Momente werden uns lange in Erinnerung bleiben.