Tag 1
Was für ein Tag! Unsere Russlandreise beginnt. Kaum zu glauben, aber wahr. Lang ersehnt und nun geht es los …
Alle sind negativ auf Corona getestet, pünktlich am Flughafen Frankfurt, freuen sich – und trotzdem ist die Aufregung unverkennbar. Der Check-in funktioniert reibungslos, es gibt keine Probleme, in letzter Minute kann sogar noch schnell im Duty-free geshopt werden.
Voller Vorfreude steigen wir ins Flugzeug, sitzen auch ziemlich beieinander und heben bald ab. Der Flug ist angenehm, ohne Turbulenzen, mit guter Sicht beim Start. Die Landung in Moskau auf dem Riesenflughafen Scheremetjewo ist weich. Beeindruckt von Größe und Modernität des Airports sind wir anschließend sehr lang unterwegs, absolvieren die Kontrollen und finden pünktlich unser Gate. Das zweite Check-in ist kein Problem, das Flugzeug allerdings bedeutend voller als das erste, aber auch hier sitzen wir bequem und harren der Dinge, die da kommen.
Nach zwei Stunden landen wir sicher in Krasnodar, unserem Ziel der Reise. Dort werden wir herzlich von Wladimir begrüßt. Die Freude, uns endlich wiederzusehen und das Ziel erreicht zu haben, ist uns allen ins Gesicht geschrieben.
Ein Taxi bringt uns ins Hotel, wo wir mit Sekt und Saft herzlich empfangen werden. Nach einer kurzen Einweisung zum Hotel und zum Ablauf des nächsten Tages bekommen wir unsere Zimmerschlüssel und verabschieden uns bis morgen früh.
Nun träumt schon manche*r von zu Hause, aber vielleicht auch von den Abenteuern, die uns in den nächsten Tagen erwarten.
Tag 2
Nach einer für viele unserer Gruppe viel zu kurzen Nacht treffen wir uns im hoteleigenen Restaurant zum Frühstück. Wir steigen typisch russisch ein – mit leckerem Salat aus frischen Gurken, Tomaten und Zwiebeln, garniert mit Schafskäse, um uns dann ein gebratenes Würstchen und eine Art Omelett schmecken zu lassen. Dazu wählen wir verschiedene Sorten frisches Brot. Wer glaubte, das wäre es gewesen, der irrte. Eine Portion Syrniki (Quarkpfannkuchen mit Konfitüre und saurer Sahnehaube) komplettiert das Frühstück.
Auf dem Programm steht heute eine Stadtrundfahrt, die uns zunächst zur Bank bringt, zum Geldtauschen. Nachdem das erledigt ist, lernen wir das alte Stadtzentrum Krasnodars kennen, hören vor ihrem Denkmal stehend von der Geschichte und Bedeutung von Katherina der Zweiten (die „Große“), stehen gegenüber der Kosakenkathedrale und laufen ein Stück auf der Hauptstraße der Stadt entlang, vorbei an verschiedenen Gebäuden der Administration der Stadt bis zum Puschkindenkmal vor der gleichnamigen Bibliothek. Zarin Katherina spielt eine große Rolle in der Geschichte der Stadt, ja des gesamten Gebiets, das nach dem hier fließenden Fluss Kuban benannt ist. Sie schenkte den Kosaken das hiesige Land mit der Aufgabe, sie und ihr Reich vor den südlichen Bergvölkern und den Türken zu schützen. Ein genialer Schachzug. Der Plan ging auf.
Sie wird mit Denkmälern, auf Gemälden und jegliche andere Weise verehrt. Man erwähnt sie in jeder Lebenslage. Ja, selbst die zahlreichen Papierkörbe in der Stadt tragen ihren Anfangsbuchstaben.
Die Weiterfahrt führt entlang der Hauptstraße, vorbei an Geschäften, Hotels, Denkmälern, Triumphbogen, Springbrunnen, Blumenuhr und Denkmälern, wie zum Beispiel dem aussagekräftigen Skulpturendenkmal nach Repins Gemälde „Die Saporosher Kosaken schreiben einen Brief an den türkischen Sultan“. Spätestens hier wird uns klar, dass wir nochmal zu Fuß unterwegs sein wollen, um all diese Dinge besser sehen und erleben zu können.
Die Fahrt bringt uns dann in einen jungen Teil Krasnodars, der erst in den letzten Jahren entstand. Innerhalb von drei Jahren stampfte man hier ein neues Stadion für 34 000 Zuschauer aus dem Boden. Es befindet sich in unmittelbarer Nähe einer gewaltigen Wohn-Schlafstadt, bestehend aus unzähligen Häuserblocks auf der einen Seite und einem weitläufigen Park mit Spielplätzen, Skatebahnen, Aussichts- und Rasenflächen, der von der Bevölkerung sehr gut zur Erholung und Entspannung angenommen wird, auf der anderen Seite. Finanziert und erhalten werden das Stadion, die dazugehörigen Trainingsplätze, die Elitesportschule und der Park von einem Mäzen, der sein Geld unter anderem durch eine Supermarktkette verdient hat. Wir vertreten uns im Areal des Parks die Beine und fahren dann zurück ins Hotel zum Mittagessen. Reichhaltig und sehr schmackhaft verwöhnt man uns mit einer Suppe und einem Reisgericht.
Der Nachmittag beinhaltet eine Stadtexkursion, die wir zu Fuß absolvieren. Der Besuch der Kathedrale ist faszinierend. Vater André klärt uns über ihre relativ junge, deshalb aber nicht weniger interessante Geschichte auf. Er erzählt uns, welche seelsorgerische Rolle seine Einrichtung für die Stadt und ihre Umgebung hat. Das Innere macht sprachlos und fasziniert. Goldverzierte Altäre, Ikonen, Ständer mit Erinnerungskerzen – der Anblick ist überwältigend. Man lädt uns sogar zu einem gemeinsamen Gruppenbild vor den großen goldenen Hauptaltar ein. Wir schenken zum Abschied einen handgeknüpften Wandteppich, der Dürers betende Hände zeigt, und erfreuen Pater André damit sehr.
Auf dem weiteren Weg machen wir Halt in einem kleinen Café, in dem Bliny, eine Art Eierpfannkuchen, mit verschiedenen Belägen angeboten werden. Wir lassen es uns nicht nehmen zu kosten und sind begeistert. Das zweite Standbein des Cafés sind Puppenprojekte. Mit Kindergruppen bastelt man für Russland typische „Wünschepuppen“, die zum Beispiel für Glück, Gesundheit, Wohlergehen, einen gedeckten Tisch im Haus und andere wichtige Dinge zuständig sind.
Den Kindern erzählt man beim Basteln von dieser Tradition: Wir bekommen eine Puppe, gefüllt mit etlichen Kräutern, zuständig für stabile sibirische Gesundheit, mit auf den Weg. Zum Glück sind wir nie mit leeren Händen unterwegs und machen unsererseits mit wunderschönen, von Hand gestalteten Ostereiern eine Freude.
Während der Fortsetzung unserer Runde durch die historische Altstadt werden zahlreiche Fotos gemacht, die unsere Reise dokumentieren. Wir statten außerdem der Gemäldegalerie einen Besuch ab. Man stellt uns Ikonen des 11.–12. Jahrhunderts, Gemälde der unterschiedlichsten Kunstepochen, Kunstschulen und berühmter Maler vom 14. Jahrhundert bis in die Gegenwart vor. Eine grandiose Sammlung, die inzwischen von einer kleinen privaten Sammlung auf über 13 000 Exponate angewachsen ist. Im Nachbargebäude der Galerie bewundern wir eine heute eröffnete Gemäldeausstellung einer 85-jährigen Krasnodarer Künstlerin und ihrer Schüler – grandiose Werke der unterschiedlichsten Genres.
Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem man diese vielen Eindrücken nicht mehr aufnehmen kann. Deshalb beenden wir den Spaziergang in einem grusinischen Restaurant zum Abendbrot. Frischer Salat, heiße, mit Käse gefüllte Teigtaschen und vom Gast selbst gerollte Kebaps werden gereicht. Lecker, lecker, lecker – mehr ist nicht dazu zu sagen.
Wir lassen den erlebnisreichen Tag im Hotel ausklingen. Wir finden uns in einem unserer Zimmer zusammen, sitzen gemütlich beieinander und lernen uns besser kennen. Ein langes Gespräch über uns und unsere Arbeit in der Soli, unsere Vorstellungen und Wünsche bringt uns einander näher. Ein gelungener Abschluss des Tages.
Tag 3
Nach den gestrigen Anstrengungen sind heute dennoch alle ausgeschlafen. Das Frühstück im Restaurant mit Milchsuppe, Bliny, frischen Brötchen und verschiedenen Marmeladen nebst Kaffee und Tee sorgt für gute Stimmung und Wohlbefinden.
Also heißt es: auf zum Invalidenzentrum. Zunächst ist „Landeskunde“ angesagt: Eine Straßenbahn bringt uns unserem Ziel näher. Ein kurzer Spaziergang über Fußwege der etwas anderen Art, mit tiefen Löchern im Asphalt, irre hohen Bordsteinkanten und Kopfsteinpflaster fordert unsere ganze Aufmerksamkeit. Wir bewältigten diese Herausforderung mit Bravour und erreichen unverletzt und mit heilen Knochen das Zentrum. Der Empfang ist superherzlich, aus jeder Pore tropft die Gastfreundschaft, in den Augen liest man pure Freude über unser Kommen. So sind der Anblick des desolaten Hauses und des nicht wirklich einladenden Hinterhofs schnell vergessen. Der künstlerische Leiter des Hauses erzählt uns, dass die Einrichtung seit 28 Jahren existiert und eine Elterninitiative die Gründung „zu verantworten hat“. Eltern behinderter Kinder hatten die Idee, über künstlerische Arbeit und Handarbeitstechniken wie Zeichnen, Malen, Schnitzen oder Strohflechten ihre Schützlinge zu fördern und ihr Leben lebenswerter zu machen. Wir finden sehr schnell Gemeinsamkeiten unserer jeweiligen Anliegen: Sie nutzen Kunst, wir Sport, um Jugend zu fördern und zu formen, Talente zu entwickeln und dabei nie die sozialen Aspekte aus dem Auge zu verlieren.
Was wir dann zu sehen bekommen, ist umwerfend und macht sprachlos: Gemälde und Malereien, Stillleben, Ikonen, Landschaftsbilder, Töpferware, Strohflechtarbeiten und Schnitzereien. Unglaublich, welche Talente in dem Zentrum entdeckt und entwickelt wurden und werden. Die Kunstwerke werden inzwischen auf zahlreichen nationalen und internationalen Ausstellungen gezeigt. Man hat etliche internationale Kontakte. Auch wir sind nicht das erste Mal zu Gast und werden als wahre Freunde willkommen geheißen.
Ein Rundgang in den eher bescheidenen Räumen gibt uns die Möglichkeit, uns mit den Ausstellungsstücken vertraut zu machen. Man ist gerne bereit, alle Fragen zu beantworten. Beeindruckend, mit welcher Offenheit man uns empfängt, uns über persönliche Schicksale berichtet, gleichzeitig aber auch die enormen Erfolge der mühevollen Arbeit nicht unerwähnt lässt.
Das anschließende, eigene kreative Arbeiten macht uns sehr viel Freude. Ohne jegliche Berührungsängste, Seite an Seite mit Betreuern und Behinderten, töpfern wir, bemalen Steine oder flechten Haarschmuck aus Stroh. So mancher Skeptiker unter uns wird eines Besseren belehrt und entdeckt das in ihm bisher versteckte Talent.
Beim Abschied tauschen wir erneut Geschenke. Unser in einem Bilderrahmenset gespendetes Geld, die vielen Buntstifte und Süßigkeiten für die Kinder und Jugendlichen lassen die Augen strahlen. Wir sind uns einig, dass wir jenseits jeglicher Politik spätestens von heute an der Partei der Menschen mit Herz angehören und auch in Zukunft alles daransetzen werden, weiterhin Kinder und Jugendliche zu fordern und zu fördern. Ein gelungener, erlebnisreicher Besuch.
Die frische Luft und der Spaziergang entspannen, denn für die Verarbeitung der Eindrücke im Invalidenzentrum werden wir wohl noch eine Weile brauchen.
In einem netten Café essen wir á la carte – köstlich reicht nicht, um zu beschreiben, womit man uns verwöhnt. Spaghetti Bolognese, gebratenes Hühnchen mit Kartoffelbrei, in der Pfanne gebratenes Rind- oder Schweinefleisch mit Kartoffeln und Pilzen, gebratene Kartoffeln mit viel Gemüse – und das alles in wunderbarem Geschirr serviert, weil das Auge ja bekanntlich mitisst. Wir sind rundum zufrieden und vollkommen gesättigt.
Am späten Nachmittag erwartet uns ein weiterer Höhepunkt des Programms. Wir spazieren bei brodelndem Verkehr entlang der Hauptstraße zum Musiktheater der Stadt. Heute beginnen die Feierlichkeiten zum 25. Jubiläum des hiesigen, noch sehr jungen Balletts mit einer Aufführung des weltbekannten Stücks „Die Legende über die Liebe“, aufgeführt mit Unterstützung der Primaballerina des Sankt Petersburger Balletts. Beeindruckend, ergreifend, grandios, bewegend, bezaubernd – kurzum ein Feuerwerk der Gefühle. Die Kostüme, das Bühnenbild, die Musik, das Orchester, der Dirigent und nicht zuletzt die Tänzer und Tänzerinnen vollbringen ein Meisterwerk – und wir dürfen dabei sein. Es entstehen unvergessliche Eindrücke und viele Emotionen werden freigesetzt.
Als wir das Theater verlassen, trauen wir unseren Augen nicht: Wo sind die vielen Autos geblieben? Die Straße ist leer. Dafür sind zahlreiche Fußgänger und Rollerfahrer unterwegs. Und, plötzlich, Radfahrer, die es lieben, die ab Freitagabend zur Fußgängerzone umgewandelte Hauptstraße zu nutzen.
Wir lassen den Abend in einem hübschen Restaurant ausklingen. Bei leckerem Salat und erneutem Essen à la carte sitzen wir gemütlich zusammen. Unser Heimweg führt uns wieder über die als Fußgängerzone genutzte, mittlerweile bevölkerte Hauptstraße, zurück zum Hotel.
Tag 4
Zum Frühstück haben wir uns gedanklich auf ein Geburtstagsständchen für Wladimir vorbereitet. Als er kommt, singen wir ihm ein Liedchen und übergeben ein Geschenk. Er ist gerührt, aber ebenfalls auf Zack. Zwei Torten, eine davon glutenfrei, werden gereicht und eine Flasche Sekt wird geköpft.
Zum Frühstück essen wir Gurken-Tomaten-Salat, Spiegeleier, Brötchen, Schinken und Champignons, dazu gereichter Tee und Kaffee runden das Festmahl ab. Wir machen uns dann auf den Weg zu einem der zentralen Plätze der Stadt. Dort wird zu Ehren des heutigen Stadtjubiläums sehr feierlich die Flagge der Stadt gehisst. Kosaken marschieren in ihren Uniformen auf, ein gemischter Chor steht bereit, die Führung der Stadt ebenfalls. Marschmusik erklingt, die Fahne wird über den Platz getragen und gehisst. Es wird salutiert, der Chor singt Lieder über die Freude, genau in dieser Stadt leben zu können. Ein erhebendes Gefühl, dabei sein zu dürfen.
Die Stadtoberhäupter gesellen sich zum Fototermin mit den Sängern, nicht ohne unsere Gruppe vorher herzlichst zu begrüßen und uns mit auf das Foto zu bannen. Echte Freude über unser Kommen wird deutlich. Herzlichkeit, liebe Worte, nette Gesten – das alles ist echt und wahrhaftig so gemeint.
Nunmehr trennen wir uns. Einige gehen spazieren und bummeln durch die Uliza Krasnaja, die Hauptstraße der Stadt und ihre Nebengassen. Der Rest entscheidet sich, einen Obst‑, Gemüse‑, Fleisch- und Fischmarkt zu besuchen. Die Farbenpracht der angebotenen Früchte ist überwältigend. Frisches Obst vom Feinsten, Trockenfrüchte bis zum Horizont, Hülsenfrüchte und Nüsse jeglicher Art, bekannte und exotische Gewürze – Auge, was willst du mehr? Ein Stand mit Trockenobst und Nüssen muss magnetisch gewesen sein. Er zieht uns magisch an. Zunächst dürfen wir viele Aprikosen, Pflaumen, Feigen, Mandeln und ein Nussgemisch kosten. Dann kaufen wir sehr zur Freude des Verkäufers reichlich ein. Natürlich bleibt unsere Anwesenheit auf dem Markt nicht unentdeckt. Wir werden neugierig betrachtet und interessiert nach unserer Herkunft befragt. Nach der „Deutschland“-Antwort nickte man freudig lächelnd, andächtig, ehrfurchtsvoll, sogar anerkennend – und das trotz der Sanktionen und der derzeitigen Russlandpolitik unseres Landes.
Unser nächstes Ziel ist die Kosakenparade, die wöchentlich stattfindet. Folglich machen wir kurz Rast im Hotel und versammeln uns pünktlich am besten Ort zum Zuschauen. Wir sind da, wer nicht kommt, sind die Kosaken. Man hat die Parade aus pandemischen Gründen kurzfristig abgesagt. Schade, schade, schade, aber vielleicht ein Grund, erneut nach Krasnodar zu reisen.
Die Traurigkeit ist schnell verflogen, denn das Taxi steht bereit und bringt uns zu einer russischen Familie, die uns zu sich auf das Land eingeladen hat. Der Weg dorthin ist kurz. Wir brauchen dennoch länger, weil es stark regnet. Die Wassermassen fließen schlecht ab und es entstehen Pfützen gigantischen Ausmaßes. In Russland ist alles groß, wir würden diese Wasserflächen als Seen bezeichnen. Demnach ist schnelles Fahren nicht wirklich ratsam und es kommt zum Stau, bestenfalls zum Stop-and-go.
Also nochmal, eine fremde Familie lädt acht (!) Deutsche zu sich ins Haus, zu sich auf das Grundstück ein. Wir haben uns vorher nie gesehen, hatten nichts miteinander zu tun.
Die Begrüßung ist so herzlich, als ob man sich jahrelang kennt. Das Haus blitzt, im Wohnzimmer brechen die beiden Tische unter den fein säuberlich in herzhaft und süß getrennten Leckereien fast zusammen. Ziegenkäse eigener Produktion, Gemüsesalat, veganer Gemüseauflauf, Ratatouille, Piroggen, Kulitschi – süße Hefeteigküchlein, die es nur zu Ostern gibt –, Obst, frisches Brot und viele Dinge, die ich sicherlich auf dem vollen Tisch nicht entdeckt habe. Wahnsinn! Die Dame des Hauses muss Tage mit der Vorbereitung des Treffens zu tun gehabt haben.
Beim Zusammensitzen wird gelacht, ernsthaft diskutiert, hemmungslos gefragt und ehrlich geantwortet. Wir dürfen den Hund, die Hühner und die Ziegen kennenlernen, die allesamt in der Coronazeit angeschafft wurden. Der Hund, um die Langeweile und die fehlende Bewegung zu kompensieren, die Hühner und Ziegen dienen der Selbstversorgung.
Wie soll man nun das Treffen beschreiben?
Die beliebtesten und damit meistverwendeten Synonyme für „Gastfreundlichkeit“ sind:
Unvoreingenommenheit
Willkommenskultur
Gastlichkeit
offenes Haus
Diese Begriffe beschreiben das, was wir erleben, völlig unzureichend. Unvoreingenommenheit ja, aber wer von uns gibt Menschen gegenüber, die man noch nie gesehen hat und zudem Ausländer sind, völlig offen Antwort zu Politik, Einstellungen, persönlichem Leben und finanziellen Fragen?
Willkommenskultur ja, aber wer von uns beauftragt die Oma der Familie, dicke Socken als Hausschuhe zu stricken, um sie dann als Souvenir mitzugeben?
Gastlichkeit ja, aber wer von uns empfängt Gäste bei sich mit köstlichen, selbstzubereiteten Speisen und Getränken von Wasser (Woda) bis Wässerchen (Wodka) biegenden Tischen?
Offenes Haus ja, aber wer von uns zeigt wildfremden Menschen alle, wirklich alle Räume und das äußere Umfeld seines Hauses?
Kurzum, ein Wort, das das Erlebte beschreibt, gibt es im Deutschen nicht!
Einige von uns, die noch nie in Russland waren, hörten von der vielgepriesenen Gastfreundschaft. Aber so hatten sie sich diese nicht vorstellen können. Nahezu unbeschreiblich, unfassbar. Da fehlen selbst mir die Worte – und das will etwas heißen!
Den Abend lassen wir bei einem ausgedehnten Bummel auf der Uliza Krasnaja ausklingen. Viele, viele Menschen tun es uns gleich.
Leider können wir auch hier das Wasserspiel der tanzenden Fontänen nicht beobachten. Es fiel der Pandemie zum Opfer. Ich bin mir sicher, wir finden noch mehr Gründe, warum wir noch einmal hierherkommen sollten.
Uns ist dennoch nicht langweilig. Vorbei an Sängern oder „Beinahe“-Sängern, Feuerkünstlern, Malern, Breakdancern, Sprayern, diskotanzenden Jugendlichen und Leierkastenspielern haben wir immer etwas zu entdecken, zu staunen oder zu (be-)wundern. Es ist eine wunderbare Idee, Woche für Woche diese Fußgängerzone einzurichten. Sie wird angenommen und hat Volksfestcharakter, an dem alle teilhaben können.
Tag 5
Auf dem Plan steht Sotschi – was für ein Abenteuer!
Gegenseitiges Wecken ist angesagt, denn es geht um 05:15 Uhr los. Zunächst fahren wir mit dem Taxi zum Bahnhof. Nach der Gepäckkontrolle schlürfen etliche erstmal einen Kaffee, um die Augen offen halten zu können.
Der Zug fährt ein und wir werden kontrolliert. Fahrkarten, Platzkarten, Pässe – das ganze Programm. Ohne diesen Zinnober gibt es kein Einsteigen! Wir haben ein ganzes Abteil für uns, sitzen bequem und warm. Nach circa einer Stunde bringt man Tee und Kaffee und wir frühstücken gemeinsam. Wladimir hat Obst, Brötchen, Brot und ein Lunchpaket für jeden besorgt. Mit anderen Worten: Uns geht es blendend.
In Loo, einem Stadtteil der mit 145 km hinter Mexiko-Stadt zweitlängsten Stadt der Welt, verlassen wir den Zug und fahren hinauf in den Kaukasus. Dort besuchen wir ein Teehaus, gebaut im Stil alter russischer Holzhäuser, also ohne einen einzigen Nagel und völlig schraubenlos. Hoch oben im Gebirge haben wir einen gigantischen Ausblick in die höheren, zum Teil schneebedeckten Berge. Im Haus selbst erklärt man uns viel zum Teeanbau, erzählt von der Entstehung erster Plantagen und der Anwendung verschiedener Erntetechniken.
Jetzt können wir mit unserem Wissen glänzen. Wer weiß schon, dass von einem Strauch fünf verschiedene Sorten Tee geerntet werden können? Und noch dazu kunterbunte, nämlich weiße, gelbe, rote, grüne und schwarze. Und andere werden verblüfft sein, wenn wir berichten, dass der herkömmliche Teestrauch eigentlich ein Baum ist, der in die Höhe und gleichzeitig in die Tiefe wächst.
Der zweite Halt sollte in Sotschi sein. Also machen wir uns auf und fahren los, um gleich noch einen kurzen Stopp an einer Teeplantage zu machen. In Sotschi angekommen, nehmen wir Jelena an Bord, und setzen unsere Fahrt fort. Auf dem Weg Richtung Krasnaja Poljana, dem 2015 übergebenen Skiressort, erläutert sie uns, was wir links und rechts sehen. Informationen zur Geschichte, Bedeutung, Flora und Fauna der Stadt geben uns einen Überblick.
Am Ziel angekommen, werden wir von Sergej, dem 28-jährigen Manager der Anlage, herzlich empfangen. Er bittet uns, alles anzuziehen, was zu finden ist. Mit einer Seilbahn setzen wir unsere Reise fort. Bei 540 m starten wir, gondeln auf 960 m, pausieren auf 1460 m und landen schließlich bei 2200 m – im Schnee. Hier oben erwarten uns 5 Grad Celsius.
Eine zünftige Schneeballschlacht muss sein. Spaß pur, Gruppenfotos nonstop, herrliche Aussichten dank sich lichtenden Nebels bei der Abfahrt, Fotos, Freude, Begeisterung – was für ein Erlebnis!
Ein Höhepunkt jagt den nächsten. Nunmehr ist Mittagessen angesagt. Ein armenisches Restaurant wird ausgesucht. Leckerer Salat, frisches Brot, superfrische Lachsforelle aus der Forellenzucht in unmittelbarer Nähe, Lawasch mit gebratenem Rindfleisch und gebackenen Kartoffeln sättigen uns aufs Feinste und machen zufrieden. Und immer noch sind wir von grandioser Landschaft umgeben. Hinter uns die kaukasischen Berge und vor uns die am Meer gelegene Stadt. Dort sehr zeitiger Winter in schroffer Bergwelt und da ein im Moment für hiesige Verhältnisse ungewöhnlich kühler Herbst mit Palmen, blühenden Sträuchern und herrlichen Blumenrabatten. Gegensätze, die faszinieren.
Unser Ziel ist der Olympiapark, durch den wir leider nicht spazieren dürfen. Heute ist hier Formel-1-Rennen und deshalb alles abgesperrt. Also umrunden wir ihn mit unserem Taxi und bekommen so einen Eindruck über die gewaltige Anlage.
Ein Abstecher direkt ans Wasser bietet die Möglichkeit, sich die Füße im salzigen, warmen Wasser „abzukühlen“.
Auf dem Weg zum Bahnhof erleben wir ein Beispiel der russischen Bürokratie. Irgendjemand hatte den Einfall, den Weg abzusperren und so die direkte Anfahrt zum Bahnhof zu verhindern. Auch der Hinweis, dass wir eine internationale Delegation sind, hilft nicht.
Tag 6
Wir erlauben uns heute ein etwas späteres Frühstück, sind wir doch erst heute morgen zu Bett gegangen. Die zwanzig Minuten mehr hätten vielen helfen können, wäre ihnen der Schock über den Wahlausgang nicht in die Glieder gefahren.
Dennoch sind wir gewillt, einen spannenden Tag zu erleben und das gelingt uns auch. Unser erster Programmpunkt ist ein Treffen im Haus der nationalen Kulturen. Krasnodar bezeichnet sich als Stadt der verschiedensten Nationalitäten. Zurecht: Allein in diesem Haus arbeiten 30 Gruppen mit unterschiedlicher Herkunft friedlich unter einem Dach. Traditionen, Tänze, Trachten, Sprache, Kunst und Musik sind nur einige Dinge, mit denen man sich beschäftigt. Es wird alles getan, um die Geschichte der einzelnen Völker zu bewahren und weiterzugeben. So bereitet man Vorstellungen, Ausstellungen und Konzerte vor und tritt erfolgreich damit auf. Man unterrichtet Kinder im Sprechen, Lesen und Schreiben der Muttersprache. Laut Aussagen der Mitarbeiter des Hauses arbeiten Jung und Alt gut miteinander und unterstützen sich.
Das Haus des Zentrums wird von der Stadt finanziert, ansonsten schreibt man, wie bei uns, zahlreiche Förderanträge, um alle Ideen umsetzen zu können.
Wir werden herzlich begrüßt und mit viel gegenseitigem Interesse tauschen wir Erfahrungen bei der Jugendarbeit aus. Gern ist man bereit, uns die Arbeitskabinette zu zeigen, nachdem man uns Erklärungen zu den in Vitrinen ausgestellten Kostümen verschiedener Nationalitäten gegeben hat.
Wir verabschieden uns und gehen dann auf den Markt. Eigentlich gehen wir nicht – man könnte es eher als rennen bezeichnen. Wie immer haben wir wenig Zeit, aber viel vor. Ein Geschäft ist unser Ziel, in dem wir hemmungslos einkaufen. Der Rückweg durch den Markt gleicht einem Slalom, aber wir verlieren einander nicht.
Im Hotel angekommen, werfen wir unsere erstandenen Schätze ab, machen uns frisch und gehen zum nächsten Tagesordnungspunkt über, dem Mittagessen. Ein gerade eröffnetes Hotel vom Superfeinsten ist unser Gastgeber. Salat aus frischem, ausgesuchten Gemüse, Broccoli- oder Tomatencremesuppe, Hühnchen auf Kartoffelbrei, Fisch auf Reis, Eis, Kaffee und Tee sorgen für Wohlbefinden.
Um 16 Uhr sind wir zum Empfang der Stadtoberen eingeladen. Sehr offiziell, zeitlich exakt durchgeplant, herzlich, aber steif – also völlig untypisch für den durchschnittlichen russischen Menschen. Man tauscht Freundlichkeiten aus, zeigt gegenseitig Interesse an der Jugendarbeit, hofft auf die Entwicklung der Zusammenarbeit neuer Gruppen und spricht Einladungen aus. Der offizielle Teil ist zu Ende und man hat es plötzlich mit normalen Menschen zu tun. Ungezwungen und echt interessiert an unserem Radsport, ist man fasziniert von unserer Arbeit. Der Erfahrungs- und Ideenaustausch beginnt und zum Abschluss tauscht man Nummern aus. Die Verabschiedung ist wesentlich herzlicher als der Empfang. Der Unterschied zwischen Administration und normalem Bürger wird mehr als deutlich.
Ach, und natürlich darf nicht vergessen werden, dass der als passionierter Radfahrer gekommene Jörg die Veranstaltung als pensionierter Radfahrer verließ. Ein wunderbarer Übersetzungsfehler.
Nach der Stadtrundfahrt am ersten Tag haben wir den Wunsch, die uns gezeigten Plätze zu Fuß zu erlaufen. Also gönnen wir uns eine Straßenbahnfahrt bis zum Ende der Hauptstraße. Die dort befindlichen Fontänen dienen als Fotomotiv. Wir bummeln gemütlich in der Mitte der Straße – eine wunderschön gestaltete Fußgängerzone zwischen zwei gegenläufigen Fahrspuren, auf denen sich der Kampf heimkehrender Autofahrer abspielt.
Der Spaziergang gibt uns Gelegenheit, die Blumenuhr, das Denkmal der Studenten, den Triumphbogen und die Glocke mit Jekaterina näher sehen und als Foto festhalten zu können.
Tag 7
Was für ein Tag. Herrlicher Sonnenschein, kein Wind, ein echtes Gefühl von Spätsommer oder Frühherbst. Großartig. Dazu ein gemütliches Frühstück und dann Freizeit.
Wir sind zunächst gemeinsam unterwegs und kaufen dieses oder jenes Mitbringsel. Der anschließende Bummel über den Markt in der Nähe des Hotels lässt unsere Herzen höherschlagen. Getrocknete Früchte, frisches Obst und Gemüse, unendlich viele Teesorten, Nüsse, Gewürze, Süßwaren, Kosmetika, Schuhe, Klamotten, Schmuck – es gibt nichts, was es nicht gibt. Dazu unendlich viele neugierige Blicke, schüchterne Nachfragen, woher wir kommen. Und spätestens dann kann irgendjemand ein „Guten Tag“ oder „Ich heiße …“ oder später ein nettes „Auf Wiedersehen“ beisteuern. Es kann aber auch passieren, dass man einem Armenier begegnet, der in fließendem Deutsch spricht, weil er zehn Jahre in Deutschland gelebt hat. Also gilt: Aufgepasst, irgendwo gibt es immer jemanden, der Deutsch versteht.
Zum Mittagessen speisen wir vornehm in einem fast nigelnagelneuen Restaurant. Das Essen war bisher sehr, sehr lecker. Das heutige zählt auch dazu.
Unsere erste gemeinsame Aktion heute ist der Besuch des Hauses für humanitäre und schöpferische Bildung. Die Begrüßung ist auch hier von großer Herzlichkeit. Man freute sich auf uns. Zunächst werden wir in das Museum des Zentrums geführt. Dort macht man uns mit der Entwicklung der Pionierorganisation vertraut. Kurz und bündig erzählt man uns von den Anfängen in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts und belässt es bei dem Exkurs über die Geschichte bis zum Zweiten Weltkrieg.
Man will uns so viel wie möglich zeigen. Wir erfahren, dass es zahlreiche Ensembles gibt, darunter vielfach ausgezeichnete. Das Zentrum hat an sieben Tagen der Woche von 8–20 Uhr geöffnet. Man erklärt uns den Werdegang vom einfachen, normalen 7‑jährigen Kind bis zum spezialisierten Tänzer, Musiker, Sänger, PC-Experten oder Schneider. Alle Bereiche unterstützen sich gegenseitig. Es ist ein wunderbares Miteinander in einer großen Familie.
Zahlreiche Pokale, Medaillen, Zertifikate und Auszeichnungen zeugen von der Qualität der Kollektive. Wir dürfen drei davon sehen. Wunderschöne Kostüme, famose Choreografien, trotz körperlicher Anstrengung stets lächelnde Kinder – ein Feuerwerk des Willens, Könnens und unsererseits Genießens wird abgefackelt. Sagenhaft, was dort geleistet wird.
Gänzlich ohne Pause setzen wir unsere Erlebnistour fort. Auf nach Adygeja – eine Republik jenseits des Flusses Kuban.
Um nicht in den Wahnsinnsstau zu kommen, fahren wir vor 17 Uhr auf einem Umweg über die weiter entfernte Brücke. Die eigentliche ist gesperrt, dementsprechend hoch das Verkehrsaufkommen.
Auf der anderen Seite angekommen, finden wir uns schnell in einem weiteren gerade erst eröffneten Restaurant ein. Adygisches Essen wird gereicht. Schade, dass es keine Geruchs- und Geschmacksberichte gibt. „Absolut empfehlenswert“ wäre im Restaurantführer zu lesen. Jedes Gericht ist hervorragend. Allerdings dauert es insgesamt zu lange. Mit einer größeren Gesellschaft wäre man wohl überfordert. Was soll´s? Übung macht den Meister!
Wir jagen hier von einem Erlebnis zum anderen. Das adygische Folkloreensemble hat uns zu einer seiner Trainingsstunden eingeladen. Jungen und Mädchen im Alter von 7–27 tanzen zusammen. Na ja, was soll das schon sein?
Wie könnte man aber beschreiben, was wir geboten bekommen? Zu Beginn machen die Jugendlichen sich warm und dann sind sie nicht mehr zu halten. Sie schweben, wirbeln, drehen sich, springen und schlagen Salti. Spitzentanz, exakte Körperhaltung, der entsprechende Gesichtsausdruck – dort passt alles, jedes Detail sitzt. Man zeigt uns, dass man nicht nur tanzen kann, sondern auch weiß, wie mit Trommeln umzugehen ist. Unglaublich, was diese jungen Leute können. Umwerfend, begeisternd, sensationell, verblüffend, faszinierend, spitze, mega – das sind Adjektive, um die Eindrücke in Worte zu fassen. Im Anschluss tanzt man gemeinsam mit uns. Carolina begeistert mit ihren Trommelklängen.
Zur Verabschiedung kommt es nicht gleich, denn das gegenseitige Interesse ist groß. Vom Kunstradfahren, Radpolo oder Rollsport hat man noch nie gehört, schon gar nicht etwas gesehen. Bloß gut, dass es die moderne Technik gibt und man Videos zeigen kann. Die Fragen von beiden Seiten ziehen sich hin, man erkundigt sich hemmungslos. Das alles bei enormer Offenheit und Herzlichkeit. Der Abend wird uns lange im Gedächtnis bleiben.
Wir sitzen in unserem Hotel noch ein Weilchen beieinander, weil jeder von uns erstmal seinen hohen Adrenalinspiegel in den Griff bekommen muss.
Tag 8
Orljonok, wir kommen!
Das zweitgrößte Kindererholungszentrum erwartet unseren Besuch. Also machen wir uns nach einem Frühstück der etwas anderen Art auf den Weg. Warum anders? Die neue Belegschaft ist sehr jung und bemüht. Vor allem aber nervös und aufgeregt. Schlussendlich hat dann aber jeder etwas zu essen und zu trinken und es kann losgehen.
Das Großraumtaxi bringt uns sicher ans Ziel, auch wenn man hier bei den Entfernungen mit längeren Fahrzeiten rechnen muss. Wir rollen dennoch dem Zeitplan entsprechend „vor die Tore“ des Lagers, schießen gleich mal ein paar Gruppenfotos und werden dann freundlich begrüßt.
Unser Weg führt uns in das Innere diese Riesenkomplexes. Dort erwarten uns der stellvertretende Direktor des Lagers und die Leiterin der Abteilung für Zusammenarbeit mit dem Ausland.
Ein leckeres zweites Frühstück wird in einem Café gereicht und nach einer kurzen Vorstellungsrunde und Erläuterungen zum Tagesablauf stellt und beantwortet man bereits erste Fragen.
Ein Spaziergang zu den einzelnen Gebäuden und Einrichtungen des Innenbereichs macht uns schnell deutlich, von welch gigantischem Ausmaß dieses Lager ist: Zehn Unterlager mit verschiedenen Ausrichtungen je nach Talent und Interesse, davon vier ganzjährig, im Sommer bis zu 4000 Kinder im Alter von 7–17 Jahren, dazu 2 500 Mitarbeiter, im Winter 1500 Kinder und 2000 Bedienstete, 13 Durchgänge von je 21 Tagen. Das muss man erst mal koordinieren und managen.
Wir sehen mit eigenen Augen ein Stadion, einen Sport- und Kulturpalast mit olympiageeigneter Schwimmhalle im zweiten Stock nebst Sprungturm, zwei Museen für Kosmos oder die Geschichte der Entstehung und Entwicklung des Lagers, Speisesäle, Ausstellungen, Sportanlagen, eine Allee der kreativen Meister bestehend aus fünf Fertighäusern jeweils zum Töpfern, Weben, Malen, Nähen, Basteln, ein Amphitheater, ein Observatorium, eine Schule und zahlreiche Gebäude der Lager. Unglaublich!
Wir erfahren, dass im Orljonok stets auch gebaut wird – und das in einer Wahnsinnsgeschwindigkeit. Die Allee der Meister entstand in zwei Jahren, das Amphitheater in knapp drei. Und es werden neue Einrichtungen entstehen.
Das Lager verfügt über einen eigenen Fuhrpark, mehrere Küchen, eine Wäscherei, einen guten medizinischen Dienst und viele weitere Dinge. Es ist eine Stadt für sich.
Alles ist groß und für viele Kinder ausgelegt. Das sind Dimensionen, die man sich schwer vorstellen kann. Es muss grandiose Planung dahinterstecken, um alles unter einen Hut zu bekommen.
Leider haben wir zu wenig Zeit. Man will uns so viel wie möglich zeigen, aber auch mit uns ins Gespräch kommen.
Wir sind beeindruckt über die Vielfältigkeit, die dieses Lager bietet. Ausgeklügelte Pläne von Pädagogen, Psychologen und Methodikern, die offensichtlich an einem Strang ziehen, machen es möglich, dass jedes Kind und jeder Jugendliche im Lager glücklich ist, extrem viel lernt, neue Freunde findet und sich mit Wehmut nach den 21 Tagen auf den Weg nach Hause macht. Die Hoffnung, wiederkehren zu dürfen, hat dabei jeder im Gepäck.
Bei der knappen Beschreibung wurde die Lage des Lagers noch nicht erwähnt: Vier Kilometer lange Schwarzmeerküste, über tausend verschiedene Pflanzen- und Baumsorten, herrliche Blumenbeete – das Außengelände ist ein Traum für sich: Wunder-wunderschön.
Unser Tag ist vollständig durchgetaktet, eine Besichtigung folgt einer Führung und umgekehrt. Informationen über Informationen, fast erschlagend, aber hochinteressant.
Dennoch bietet man uns die Gelegenheit ins Wasser einzutauchen, das eine Temperatur von 18 Grad hat. Wir haben das ganze Meer für uns und genießen dieses Abenteuer.
Insgesamt gleicht der Tag einer logistischen Meisterleistung. Von unsichtbarer Hand geführt, gelangen wir zu all diesen Einrichtungen, werden bestens mit Mittagessen und Abendbrot beköstigt und man umsorgt uns wie herzlich willkommene Freunde. Eine absolut gelungene Zeit mit unvergesslichen Eindrücken. Und es gäbe noch so viel mehr zu entdecken!
Die Rückfahrt verläuft problemlos und nahezu staufrei, sodass wir relativ zügig in Krasnodar zurück sind.
Tag 9
Als heute während des Frühstücks gesagt wird, dass wir von unserem Ausflug gegen Mitternacht zurück sein werden, glaubt man an einen Scherz. Doch es soll sich bewahrheiten. Eine Rundreise von circa 500 Kilometern mit mehreren Unterbrechungen nimmt nun mal viel Zeit in Anspruch.
Unser Ziel ist Gelendschik, ein bekannter Kurort an der Schwarzmeerküste. Auf der Strecke machen wir Halt in einem Brot- und Weinmuseum. In dessen Räumen zeigt man uns in einer nachgebauten Bockwindmühle diesen und andere Typen von Getreidemühlen. Ein Sammelsurium von alten Dingen wie Bügeleisen, Plattenspielern, Fotoapparaten, Samowaren – ein nachgebautes, damals typisches Kosakenzimmer kann ebenfalls bestaunt werden.
Nach dem Rundgang geht es zum praktischen Teil der Führung. Der Sauerteig ist vorbereitet, wir formen Brötchen und in einem riesigen, dank echten Feuers warmen (Schlaf)-ofen backen wir unsere formschönen Brötchen.
Nach circa sechs Minuten ist unser Werk vollbracht. Wie aus einem Hexenofen holen wir unsere Gebäckteile heraus und lassen sie uns zu einer Tasse Tee schmecken. In der Zwischenzeit haben wir eine kurze, aber effektive Weinverkostung vorgenommen. In der Gegend, in der sich das Museum befindet, wird viel Wein angebaut und wir dürfen heute die Nutznießer sein.
Wir setzen die Reise fort und kommen bald nach Gelendschik, einem in Russland sehr bekannten Kurort an der Schwarzmeerküste. Dort bummeln wir entlang der Seepromenade, beobachten Wassersportler, staunen über die sehr teuren Villen und Hotelanlagen, genießen den Blick zum Horizont und die wunderbare Bepflanzung der Fußgängerzone. Dabei trotzen wir dem mächtigen Wind, der uns heute gewaltig durchschüttelt.
Das nächste Ziel, die Stadt Novorossisk, wird nach einem kurzen Stopp an der Autobahn schnell erreicht. Bei diesem Halt überqueren wir über eine Brücke die Fahrbahn und haben einen grandiosen Ausblick auf die Bucht. Dort liegt eine Reihe großer Schiffe, wir sehen Schwimmer und man erzählt uns, dass man hier auch Delfine beobachten könne.
Novorossisk selbst ist eine große Hafen- und Industriestadt mit viel Erdölgewinnung und Verschickung. Die großen Industrieanlagen und die zahlreichen Plattenwohnhäuser wirkten natürlich nicht sehr einladend, die im Hintergrund befindlichen hohen Berge beeindrucken schon.
Bald erreichen wir unser Ziel, ein malerisch gelegenes Restaurant. Ein Park mit traumhafter Bepflanzung und unterschiedlichsten, uns fremden Bäumen. Auf Schildern erklärt man die Wirkung ihrer Früchte auf die Gesundheit. Eine zauberhaft angelegte Wasserfläche mit vielen, vielen Forellen rundet das Bild ab. Wir nehmen in einem der zahlreichen Häuschen, in denen man in Gruppe oder Familie zurückgezogen und coronakonform speisen konnte, Platz.
Nach einem üppigen Mahl gehen wir mit echtem Völlegefühl zum Großraumtaxi zurück. Wir haben viel zu viel gegessen. Leckere Fischsuppe, ein für uns etwas gewöhnungsbedürftiger Salat, riesige, auf dem Grill gegarte Forellen und Champignonköpfe wurden gereicht. Es war köstlich.
Unsere Reise nähert sich dem nächsten Höhepunkt. Wir besuchen die Sektkelterei Abrau Durso. Wir nehmen an einer interessanten Führung durch die Anlagen der Produktionsstätte teil und erfahren viel über die Gründung und weitere Entwicklung des Betriebes. Man erklärt uns viele Details der Sektherstellung und führt uns durch kilometerlange Tunnel vorbei an Tausenden Sektflaschen. Allein die in der Sowjetzeit entstandenen und an Metrotunnel erinnernden Gänge sind fünf Kilometer lang. Die beeindruckenden Zahlen und ein Blick in die Produktion sind überwältigend. Den Abschluss der Führung bildet die in einem Irrsinnstempo durchgeführte Sektverkostung.
Der Heimweg ist nun nur noch 170 Kilometer lang. Man plant hier in anderen Dimensionen. Nach reichlich zweieinhalb Stunden hat Krasnodar uns zurück. Wir statten noch schnell einem Café einen Besuch ab, um dort leckere Pizza und Salat als Betthupferl zu uns zu nehmen.
Der Tag war ereignis- und erlebnisreich, sehr, sehr windig und nicht unanstrengend, sodass sich mancher schon auf sein Bett freut.
Tag 10
„Время летит“ (Wremja letit), sagt der Russe. Die Zeit fliegt. Bei uns heißt es, dass sie schnell vergeht. Und genauso ist es. Gerade noch saßen wir im Flugzeug und freuten uns, dass wir gut in Krasnodar gelandet sind. Und nun verbringen wir den letzten Tag hier. Das ist kaum zu glauben!
Es sind wieder erlebnisreiche Stunden, die mit dem Frühstück, serviert von unserer Lieblingskellnerin, beginnen. Dazu gibt es Livemusik am weißen Flügel, gespielt von einem herausragenden Virtuosen. Gefühlvoll, dezent im Hintergrund, ein Genuss. Wir müssen das natürlich mit Applaus und herzlichen Worten würdigen. Die Freude ist groß.
Wir treffen uns um 10 Uhr im Foyer unseres Hotels und die Rallye durch die Stadt beginnt. Die erste Station gilt der Post, zum Kauf von Briefmarken. Wer macht das heute noch? Es gelingt dennoch und unter erstaunter Beobachtung zahlreicher neugieriger Zuschauer wandern gefühlt 50 Karten in den Briefkasten.
Die nächste Station ist der Souvenirladen und so manches Stück wechselt den Besitzer. An Station Nummer 3 unserer Rallye statten wir dem historisch-archäologischen Museum der Stadt Krasnodar einen Besuch ab. Wir brauchen drei Anläufe, um in den ersten Ausstellungssaal zu gelangen. Heute findet dort ein Projekttag für Grundschulkinder der Kosakenschule statt. Zunächst wird unser Gang über den Korridor von Katherina der Großen und einem Kosakenataman (kostümierte Studenten) unterbrochen. Den Kindern erklärt man so die Geschichte der Stadt. Es folgt ein Gruppenfoto.
Der zweite Versuch, den Korridor zum Saal zu überwinden, scheitert, weil nunmehr viele kleine Kinder in Kosakenschuluniform auf uns zukommen. Ein weiteres Gruppenfoto folgt. Bei all diesen Aktionen begegnen wir stets freundlichen, offenen und an uns interessierten Menschen.
Der dritte Versuch klappt. Wir erschließen uns die Ausstellungssäle selbst, unter tatkräftiger Unterstützung des Aufsichtspersonals, das uns so manche Erklärung, so manchen Hinweis gibt.
Kosakenland, Katharina die Große, Kosakenflucht nach 1920, Rückkehr nach 2000, Großer Vaterländischer Krieg und die Kampfhandlungen rund um Krasnodar, der Aufbau nach dem Krieg und die Partnerstädte sind lehrreiche Themen. Wir erhalten manche bisher unbekannte Information. Das Museum befindet sich in zwei überaus üppig gestalteten Gebäuden. Zum einen das ehemals beste Hotel des Platzes, zum anderen das ehemalige Wohnhaus einer superreichen Kaufmannsfamilie.
Wir erholen uns von den vielen Eindrücken, indem wir neue an den nächsten Rallyestationen sammeln. Wir suchen und finden ein Wollgeschäft und kaufen noch dieses und jenes auf dem Markt. Und auch hier umgibt uns Freundlichkeit und Interesse. Jeder, der kann, kramt deutsche oder englische Sprachkenntnisse hervor. Umwerfend!
Nach einer kurzen Pause im Hotel essen wir lecker à la carte zu Mittag in einem Café. Salat, geröstete Kartoffeln, gegrilltes Gemüse, Pilze, Steak, Eierkuchen mit Mascarpone und Beerenobst. Es bleiben keine Wünsche übrig.
Für den Nachmittag haben wir uns einen Bummel am Kuban gewünscht. Wir spazieren also dorthin, bummeln an der Uferpromenade entlang, schlendern über die „Brücke des Kusses“ und lassen uns Zeit beim Betrachten all der Einrichtungen des sich anschließenden Erholungs- und Erlebnisparks.
Die Zeit für das Abendessen ist gekommen. Wir speisen fürstlich in einem sehr vornehmen Kosakenrestaurant, nicht ohne uns vorher die wunderschönen Außenanlagen angesehen zu haben. Das Essen – Salat, Borschtsch, Rindermedaillons, Schweinelendchen, Kartoffel- oder Zucchinipuffer, schmeckt hervorragend. Und während wir schlemmen, dreht ein gemischter Kosakenchor seine Runden durch die verschiedenen Räume. Was für Stimmen, was für eine Ausstrahlung – einzigartig. Wir genießen also Abendbrot mit Konzert. Ein echtes Erlebnis.
Wer annahm, der Abend ginge nun zu Ende, kennt Wladimir nicht. Unser Taxi steht vor dem Restaurant und wir fahren statt ins Hotel weit vor die Tore der Stadt, um den Bürgerpark am neugebauten Stadion bei Beleuchtung zu erleben. Am Donnerstag haben wir ihn schon besucht, aber das ist nichts im Vergleich zu jetzt. Wasserspiele, beleuchtete Bäume, Skulpturen, Kunstobjekte, Wasser in jeglicher Form, Amphitheater, Lichtquellen überall – ein wunderbarer Abschluss des Tages und eine gelungene Überraschung.
Nun gilt es Abschiednehmen, Eindrücke verarbeiten, Kontakte zu vertiefen, sich auf zu Hause zu freuen und später vielleicht, sich ein wenig zu erholen.
Tag 11
Heute ist hier alles zum letzten Mal:
Letztes Weckerklingeln,
letzte Dusche,
letzter Sonnenaufgang,
letztes Frühstück in gewohnter gemeinsamer Atmosphäre.
Und dennoch ist etwas anders: Wehmut macht sich breit.
Um nicht zu weinen oder gar in Depression zu verfallen, nutzt der Russe dafür „die Minute des Abschieds“. Es ist alles fertig zum Aufbruch, er setzt sich still hin und verabschiedet sich von dem Ort, von den Menschen, die er liebt oder liebgewonnen hat. Und dann wendet er sich, noch immer sitzend, dem zu, was da kommen wird. Neue Herausforderungen, neue Ziel, eventuell lang vermisste oder einfach andere liebe Menschen am nächsten Ort.
Mir hilft diese Sitte, geht man dann doch frohen Mutes los, um weitere Entdeckungen, Erfahrungen oder Erlebnisse zu sammeln. Versucht es mal!
Das Frühstück ist der letzte Akt in unserem Hotel. Wir verabschieden uns von „unserer“ Kellnerin und fahren dann mit „unseren“ beiden Wladimiren zum Flughafen.
Alle Kontrollen verlaufen problemlos. Lediglich ein Rucksack muss an einem anderen Schalter abgegeben werden. Warum auch immer. Der junge Mann, der ihn entgegennimmt, sieht vertrauenserweckend aus. Ob er der Richtige ist, erfahren wir erst in Berlin. Wir sind gespannt.
Der Flug verläuft sehr gut. Großartiger Start, grandiose Landung in Moskau – und das 25 Minuten vor der Zeit. Wir fühlen uns dennoch erst richtig wohl, als zwei ununterbrochen schreiende Kinder zur Ruhe gebracht werden. Eine einzige Ansage genügt dafür. Vorher hatten wir lange Geduld bewiesen.
Kaum gelandet, werden wir gleich abgefangen. Die Passregistrierung in Krasnodar hat wohl nicht wirklich geklappt.
Das alles ist aber kein Problem. Alle Kontrollen verlaufen zügig und ohne Probleme. Nun sitzen wir im Passagierbereich und whattsappen mit unseren Lieben zu Hause. Wladimir ist auch informiert. Er wünscht uns einen guten Weiterflug.
Die Begegnung wurde von der Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch gefördert.